Plötzlich ist es Thema Nummer eins: Essen, Etiketten, Ethik. Und mittendrin ihr/sein Satz: „Ich lebe ab jetzt vegan.“
Als Geschwister bist du nah dran – manchmal näher als Eltern oder Freund:innen. Das ist Chance und Zündstoff zugleich. Dieser Leitfaden hilft dir, respektvoll, gelassen und praktisch zu bleiben – damit eure Beziehung stark bleibt, auch wenn sich Gewohnheiten ändern.
1) Erst verstehen – dann reagieren
„Vegan“ kann bedeuten …
- nur Ernährung (pflanzlich essen),
- Werte/Identität (Tiere, Klima, Gerechtigkeit),
- Community & Aktivismus (Austausch, Demos, Aufklärung).
Statt direkt zu diskutieren, frag offen – ohne Quiz-Vibe:
- „Was ist dir daran am wichtigsten?“
- „Wie stellst du dir unseren WG-/Familienalltag jetzt vor?“
- „Gibt’s No-Gos, die ich wissen sollte – und wo ist es dir egal?“
Signal: Interesse statt Ironie. Das senkt Spannung und zeigt Verbundenheit.
2) Die ersten 72 Stunden – Do’s & Don’ts
Do
- Anerkennen: „Danke, dass du’s sagst. Lass uns das zusammen gut organisieren.“
- Quickfix Küche (auch in der WG): ein Brett + Messer + Pfanne nur für vegan; eine klare Regal-/Kühlschrankzone.
- Ein erstes gemeinsames Essen, das für alle funktioniert (Baukasten-Prinzip, siehe unten).
Don’t
- Stechereien („Na dann viel Spaß mit Grashalmen“) – kommen zynisch an.
- Grundsatzdebatten am Esstisch.
- Ultimaten in beide Richtungen.
3) Alltag & Küche – friktionsarm statt perfekt
Baukasten-Prinzip (bewährt in WGs & Familien)
- Basis: Reis, Pasta, Kartoffeln, Brot, Ofengemüse, Salate.
- Vegane Proteine: Linsen, Bohnen, Kichererbsen, Tofu/Tempeh, Erbsen-/Sojahack, Seitan.
- Gemeinsame Saucen: Tomate-Olive-Kapern; Erdnuss-Limette; Tahin-Zitrone; Pesto (vegan).
- Toppings: Jede:r ergänzt nach Bedarf – so isst ihr zusammen, ohne dass jemand verliert.
Einkaufs-Shortlist (für „geht immer“)
Haferdrink (gern kalzium-angereichert), Hefeflocken, Hummus, TK-Gemüse, Nussmus, Tomatenpassata, Kichererbsen/Linsen, Räuchertofu, Sojasauce/Tamari, Gewürze (Paprika geräuchert, Kreuzkümmel, Chili), gutes Öl.
WG-Regeln, die Frieden bringen
- Klare Beschriftung („vegan“ / „nicht vegan“).
- Putz-/Spülabsprachen behalten – Veganismus ersetzt keine Hausarbeit 😉.
- Respekt an der Pfanne: Keine „Scherzbrösel“ – Grenzen gelten auch unter Geschwistern.
4) Kommunikation, die Nähe schützt
Drei Mikro-Regeln
- Ich-Botschaften: „Ich bin unsicher, was okay ist“ statt „Du machst alles kompliziert“.
- Zeitfenster: 20–30 Min. für Vegan-Themen – danach anderes Leben.
- Humor mit Herz: Lachen ja, Spott nein.
Mini-Skripte
- „Gib mir drei Gerichte, die du liebst – ich koche eins.“
- „Was wäre heute eine 8/10-Lösung für dich?“
- „Lass uns streiten, ohne zu verletzen: keine Ultimaten, keine Abwertungen.“
5) Familie, Freundeskreis & Ausgehen
- Familienessen: Eine vegane Option fest einplanen; keine Schockvideos am Tisch, keine Seitenhiebe.
- Freundeskreis: Vorab Restaurants checken (indisch, vietnamesisch, äthiopisch, libanesisch sind oft easy).
- Feiern/Grillen: Taco-/Wrap-Bar, Ofenblech, Salate, vegane Würstchen/Burger – Hauptsache unkompliziert.
- Geschenke: Dunkle Schoki, Gewürzsets, Restaurantgutscheine, vegane Naturkosmetik, Kochbuch.
6) Gesundheit – ruhig, sachlich, ohne Drama
Vegan kann ausgewogen sein – ein paar Basics helfen, Diskussionen sachlich zu halten:
- Vitamin B12: regelmäßig supplementieren (Pflicht in rein pflanzlicher Ernährung).
- Vitamin D: in unseren Breiten oft sinnvoll (nicht vegan-spezifisch).
- Jod: Jodsalz verwenden; mit Algen vorsichtig (schwankende Gehalte).
- Eisen/Zink: Hülsenfrüchte, Vollkorn, Saaten/Nüsse; Vitamin-C zur Mahlzeit verbessert Eisenaufnahme.
- Kalzium: angereicherte Drinks, Tofu (mit Calcium), Sesam/Tahin, Brokkoli/Grünkohl.
- Omega-3: Leinsamen/Chia/Walnüsse; optional Mikroalgenöl (EPA/DHA).
- Protein: über den Tag verteilt kombinieren – kein Drama.
Pro-Tipp: Ein entspannter Check bei Hausärzt:in/Ernährungsberatung beruhigt alle – ohne Misstrauenssignal.
7) Wenn Aktivismus dazukommt – Brücken statt Bruch
Manche steigen tiefer ein: Aufklärung, Demos, Social Media. Das kann Sinn geben – und Beziehungen belasten, wenn alles moralisiert wird.
Frühwarnzeichen der Entfremdung
- Monothematische Gespräche, harte Sprache („entweder … oder“).
- Reizbarkeit/Schlafprobleme nach Video-Marathons mit Schockinhalten.
- Absage alter Rituale aus Prinzip, Abwertung anderer.
Gegenmaßnahmen
- Rahmen setzen: „Gern 20 Min. Aktivismus – dann Thema wechseln.“
- Gemeinsame Inseln: Sport, Spieleabend, Serien – ohne Moralduell.
- Social-Media-Hygiene: Kein doomscrolling vor dem Schlafen; mehr Longform, weniger Reels.
- Wenn festgefahren: Offenes 1:1-Gespräch oder neutrale Drittperson (Mediation).
8) Grenzen – freundlich, aber klar
Deine Bedürfnisse sind legitim:
- „Ich koche gern mal vegan, aber nicht jedes Mal.“
- „Ich respektiere deine Haltung – bitte respektiere meine.“
- „Keine Ultimaten. Sonst verlieren wir am Ende die Beziehung.“
Grenzen schützen – sie greifen nicht an.
9) 30-Tage-Plan für Geschwister
Woche 1 – Orientierung
- Küchenzonen & Regeln festlegen, ein gemeinsames Lieblingsgericht testen.
- Kommunikationsregeln (Zeitfenster, Ich-Botschaften, Humor).
Woche 2 – Routine
- Restaurantliste (3 Spots), ein Grill-/Mezze-Abend.
- B12 begonnen, Basics einkaufen.
Woche 3 – Balance
- Ein Treffen mit, eins ohne Vegan-Fokus.
- Social-Media-Limits testen (Uhrzeit/Dauer).
Woche 4 – Review
- Was klappt? Was nervt? 1–2 Regeln nachschärfen.
- Kleines Ritual einführen (Sonntag Kaffee/Spaziergang).
10) Kleine, crowdtaugliche Rezepte
- Pasta „Umami“: Tomate, Oliven, Kapern, Chili, Petersilie, Hefeflocken.
- Ofenblech: Kartoffeln, Paprika, Zucchini, Kichererbsen + Tahin-Zitrone.
- Taco-/Wrap-Bar: Bohnen-Chili, Mais, Avocado, Salat; alle belegen selbst.
- Bowl „Erdnuss-Limette“: Reis, Edamame/Tofu, Gurke, Karotte, Rotkohl.
- Crumble: Obst + Haferstreusel (Pflanzendrink, Öl), dazu Sorbet.
11) Wenn du dir ernsthaft Sorgen machst
Sag, was du beobachtest, nicht was du unterstellst:
- „Mir fällt auf, wie wenig du schläfst/wie gereizt du bist nach Videos.“
- „Ich hab Sorge – sollen wir das mal mit jemand Professionellem sortieren? Ich geh mit.“
Warnzeichen für Hilfe: starker Gewichtsverlust, Zwangsrituale beim Essen, sozialer Rückzug, anhaltende Schlafprobleme, depressive Stimmung, harte Ultimaten.
Fazit
Geschwisterliebe hält Unterschiede aus – mit Respekt, Humor und klaren Absprachen.
Ihr müsst euch nicht zwischen Beziehung oder Haltung entscheiden. Ihr könnt beides halten: Verbundenheit und Überzeugung. Und genau darin liegt eure Stärke als Team.
Quellen (ohne Links)
- Academy of Nutrition and Dietetics – Positionspapiere zu vegetarischer/veganer Ernährung (kritische Nährstoffe, Lebensphasen).
- Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) – Stellungnahmen zu veganer Ernährung.
- NHS / National Institutes of Health (NIH) – Nährstoffinfos zu Vitamin B12, D, Jod, Eisen, Omega-3.
- ESPGHAN – Übersichten zu pflanzenbasierter Ernährung im Kindes- und Jugendalter.
- Social Identity Theory (Tajfel/Turner) – Gruppenidentität, In-/Outgroup-Dynamiken.
- Forschung zu Compassion Fatigue (Figley u. a.) – Erschöpfung durch wiederholte Leid-Exposition.
- Literatur zu moralischem Stress/Moral Injury – Spannungen zwischen Werten und Handlungsfähigkeit.